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- Nr. 1/2022 − Februar
H+ Bundeshaus 1/2022
Kostenbremse: Planwirtschaftlicher indirekter Gegenvorschlag
von Anne-Geneviève BütikoferKostensteuerungsmassnahmen liefern erneut Diskussionsstoff
Rückstand im Gesundheitswesen aufholen
Editorial
Mit der Annahme der Pflegeinitiative im November 2021 hat die Schweizer Stimmbevölkerung dem Parlament den Auftrag erteilt, die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um mehr Personal auszubilden und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Mit dem indirekten Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative hatte das Parlament bereits im Juni 2021 eine grosszügige Ausbildungsoffensive beschlossen. Nun gilt es, dieses Kernelement aus dem indirekten Gegenvorschlag für die Umsetzung der Pflegeinitiative zu übernehmen. Zentral dabei ist, rasch die entsprechenden finanziellen Mittel für die Aus- und Weiterbildung von Fachpersonal zur Verfügung zu stellen. Nur so können mehr Fachkräfte für das Gesundheitswesen gewonnen werden.
Für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ist der Handlungsspielraum im Parlament begrenzt. Diese können nur über angemessene finanzielle Rahmenbedingungen für die Leistungserbringer und im bewährten sozialpartnerschaftlichen Dialog verbessert werden.
Kostenbremse: Planwirtschaftlicher indirekter Gegenvorschlag
Wie der Bundesrat lehnt auch H+ die Kostenbremse-Initiative der Mitte ab, erachtet aber auch den Gegenvorschlag als missglückt.
Der Vorschlag der Mitte greift zu kurz: Um das Wachstum der Gesundheitskosten zu bremsen, können diese nicht allein an die Entwicklung der Gesamtwirtschaft und an den Lohnindex gekoppelt werden – diese Meinung teilt H+ mit dem Bundesrat. Doch auch der indirekte Gegenvorschlag ist aus Sicht von H+ der falsche Weg. Er würde die Abkehr vom regulierten Wettbewerb und die Einführung einer beim Bund zentralisierten, planwirtschaftlichen und rein kostenbasierten Steuerung des Gesundheitswesens bedeuten. Ein derart tiefgreifender Systemwechsel gefährdet die qualitativ hochstehende und innovative Gesundheitsversorgung in der Schweiz, weil Kostenziele kein geeignetes Instrument sind, um medizinisch begründete von unbegründeten Leistungen zu unterscheiden. Es ist eher anzunehmen, dass wenig nützliche, aber gut tarifierte Leistungen gefördert würden. Umgekehrt würden komplexe, schlecht oder gar nicht tarifierte Fälle im Zweifelsfall weitergewiesen oder gar nicht behandelt.
Der Systemwechsel zu Kostenzielen ginge zudem mit einer politischen Steuerung der Finanzierung einher. In einem solchen System würde sich der Wettbewerb nicht mehr um die Erbringung von qualitativ hochwertigen Leistungen zu einem sachgerechten Preis drehen, sondern um die Gunst der Politik. Der indirekte Gegenvorschlag würde mit dieser politischen Steuerung der Geldflüsse Verteilkämpfe verursachen auf den Ebenen des Bundes – indem Leistungen Kostenblöcken zugeteilt würden – und der Kantone, indem Kostenziele pro Kostenblock festgelegt würden. Es ist davon auszugehen, dass diese Verteilkämpfe langfristig die Fragmentierung des Gesundheitswesens weiter verstärken und damit Bestrebungen nach regionaler Planung und integrierter sektorenübergreifender Versorgung zu Nichte machen würden. Statt die Silos des Gesundheitswesens aufzubrechen, würden sie zementiert.
Als Alternative zu diesen Vorlagen setzt sich H+ für einen kostendämpfenden, qualitätsfördernden Strukturwandel im Gesundheitswesen ein. Zielführend ist dabei, mit geeigneten Qualitätsinstrumenten Anreize zu setzen, um unbegründete Leistungen zu vermeiden, die damit verbundene Mengenausweitung zu begrenzen und die Wirtschaftlichkeit zu fördern. Outcome-Indikatoren breit auszuwerten und zu bewerten, Diagnose- und Indikationsqualität festzulegen und zu messen sowie Prozessmanagement sind geeignete Massnahmen.
Direktorin
Kostensteuerungsmassnahmen liefern erneut Diskussionsstoff
Der Ständerat ist in der Wintersession 2021 dem Nationalrat gefolgt und hat die Kostensteuerungsmassnahmen durch Tarifpartner (Art. 47c) als Teil des Massnahmenpakets 1b abgelehnt. Doch die Massnahmen sind noch nicht vom Tisch. Grund hierfür ist ein Rückkommensantrag der SGK-N.
Die SGK-N hat am 14. Januar 2022 beschlossen, sich im Rahmen eines Rückkommensantrags erneut mit den von beiden Räten knapp verworfenen Massnahmen der Tarifpartner zur Steuerung der Kosten zu befassen. Die Kommission ist jedoch mit Stichentscheid ihres Präsidenten Albert Rösti auf der Linie der Beschlüsse von National- und Ständerat geblieben und hat beantragt keine Bestimmung über Massnahmen zur Steuerung der Kosten (Art. 47c) in das Massnahmenpaket 1b aufzunehmen. H+ begrüsst diesen Entscheid, denn Art. 47c ist integraler Bestandteil des Kostenzielsystems, welches der Bundesrat im Rahmen des indirekten Gegenvorschlags zur Kostenbremse-Initiative (Art. 54, 54a bis 54e E-KVG) vorschlägt. Der Art. 47c ist deshalb in diesem Zusammenhang zu beraten.
Nachdem der neue Art. 46a, der dem Bundesrat Eingriffsmöglichkeiten in die Tarifverträge ermöglichen soll, Eingang in die überarbeitete Version des indirekten Gegenvorschlags gefunden hatte, wurde der direkte inhaltliche Zusammenhang zwischen Art. 47c und dem indirekten Gegenvorschlag noch offensichtlicher, als dies in der ersten Version bereits der Fall war. Art. 46a ergibt nur im Zusammenhang mit Art. 47c wirklich Sinn. Umgekehrt ist Art. 47c ohne die in Art. 46a vorgesehenen Korrekturmassnahmen wirkungslos.
H+ empfiehlt deshalb, dem Antrag der SGK-N zu folgen, Art. 47c im vorliegenden Massnahmenpaket 1b zu streichen und in die Beratung des indirekten Gegenvorschlags zu integrieren.
Monismus möglichst rasch einführen
Mit der einheitlichen Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen (EFAS) werden die Kosten nachhaltig gedämpft und die Qualität der Gesundheitsversorgung gefördert. Davon profitieren sowohl die Steuer- als auch die Prämienzahlenden. Deshalb muss EFAS im medizinischen Bereich möglichst rasch eingeführt werden.
Mit einer Änderung des KVG sollen ein monistisches Finanzierungssystem eingeführt (09.528 n Pa. Iv. Humbel Näf) und Gesundheitsleistungen aus einer Hand finanziert werden. EFAS ist die tiefgreifendste Reform der obligatorischen Krankenpflegeversicherung der letzten Jahre. Sie vermag die relevanten finanziellen Fehlanreize in einem grossen Teil der Behandlungskette zu entfernen. Diese Fehlanreize behindern die Verlagerung in den ambulanten Bereich und bremsen die Entwicklung der integrierten Versorgung – beide Effekte führen zu Qualitätseinbussen, unnötigen Mehrkosten und inadäquater Versorgung. Mit EFAS werden die Kosten nachhaltig gedämpft und die Qualität der Gesundheitsversorgung gefördert. Das Einsparpotenzial beträgt mittelfristig zwei bis drei Milliarden Franken jährlich. Die oberste Priorität bleibt eine rasche Einführung von EFAS im medizinischen Bereich, wie es der Nationalrat in der Herbstsession 2019 beschlossen hat.
Einbezug der Langzeitpflege unter Voraussetzungen
Auch wenn es keine unmittelbare Notwendigkeit gibt, die Langzeitpflege in die EFAS-Reform aufzunehmen, wäre dies aus systemischer Sicht zu begrüssen. Für Spitex und Pflegeheime wurde 2011 die tripartite Beitragsfinanzierung beschlossen, bei der sich im Gegensatz zu anderen KVG-Leistungen Krankenversicherer, Gemeinden und betroffene Personen an den Kosten beteiligen. Die heutigen Schnittstellen (z. B. zwischen Pflege- und Betreuungsleistungen) würden aber trotz EFAS weiterbestehen. Dies würde den Einbezug der Pflegefinanzierung in EFAS nicht verunmöglichen, aber erschweren.
Falls dennoch eine Mehrheit die Integration der Langzeitpflege in EFAS anstrebt, ist aus Sicht von H+ Kostentransparenz eine zwingende Voraussetzung. Die Datengrundlage dafür fehlt bisher (vgl. Bericht des Bundesrats zum Postulat 19.3002), und ein allfälliger Miteinbezug der Langzeitpflege bedarf einer umfassenden Klarheit über die OKP-pflichtigen Kosten.
Grundsätzlich ist es aus Sicht von H+ nicht notwendig, zum jetzigen Zeitpunkt den im Rahmen des ersten Massnahmenpakets zur Kostendämpfung verabschiedeten Art. 47a KVG um eine Tariforganisation für den Pflegebereich zu erweitern. Denn EFAS soll zunächst im medizinischen Bereich eingeführt werden. Sollte die Integration der Langzeitpflege in die aktuelle EFAS-Vorlage mehrheitsfähig sein, ist gemäss H+ sicherzustellen, dass die Kantone auch mit EFAS weiterhin keine Tarifpartner sind, aber ausgewogen einbezogen werden. Unabhängig davon ist eine raschestmögliche Kostentransparenz im Bereich Langzeitpflege insgesamt im Sinne der Leistungserbringer und der Krankenversicherer. Eine solide Grundlage von Beginn weg würde es dem Bundesrat erlauben, in einem zweiten Schritt eine fundierte Diskussion über die Integration der Langzeitpflege dann rasch voranzutreiben.
Pflegeinitiative praxistauglich umsetzen
Nach der klaren Annahme der Pflegeinitiative im Herbst 2021 ist es nun am Bundesrat und am Parlament, für eine praxistaugliche Umsetzung zu sorgen.
Am 28. November 2021 nahmen 61 Prozent des Stimmvolks und fast alle Kantone die Pflegeinitiative an. Für die Umsetzung des neuen Verfassungsartikels wird der Bundesrat einen Gesetzesentwurf vorlegen, den das Parlament innerhalb der nächsten vier Jahre verabschieden muss. Parallel dazu hat der Bundesrat 18 Monate Zeit, Übergangsbestimmungen zu erlassen.
Der Bundesrat will die Initiative in zwei Etappen umsetzen. In einer ersten Phase soll der indirekte Gegenvorschlag unverändert und ohne Vernehmlassung wieder aufgenommen werden. Zu diesem Paket zählen die Ausbildungsoffensive und die Kompetenzerweiterung des Pflegepersonals. Hingegen werden Forderungen nach anforderungsgerechten Arbeitsbedingungen und einer angemessenen Abgeltung gemäss Bundesrat längere Abklärungen benötigen.
Für H+ werden die finanziellen und tarifarischen Rahmenbedingungen für die Schaffung besserer Arbeitsbedingungen letztlich entscheidend sein. Solange die Tarife die Kosten von effizient erbrachten Leistungen nicht ausreichend decken, wie dies heute im stationären und noch vermehrt im ambulanten Bereich der Fall ist, sind alle Bemühungen zur Umsetzung der Pflegeinitiative zum Scheitern verurteilt.
Fachverantwortlicher Gesundheitspolitik
Rückstand im Gesundheitswesen aufholen
Bezüglich Digitalisierung befindet sich das Schweizer Gesundheitswesen im Hintertreffen. Es müssen rasch Fortschritte erzielt werden.
Die Motion 21.3957 «Digitale Transformation im Gesundheitswesen. Rückstand endlich aufholen!» von Ständerat Erich Ettlin beauftragt den Bundesrat, die digitale Transformation im Gesundheitswesen voranzubringen und sich dabei an erfolgreich digitalisierten Gesundheitssystemen der OECD zu orientieren. Dazu soll der Bundesrat eine Reihe von Massnahmen ergreifen, beispielsweise:
- Aufstellen einer Taskforce für die nationale Steuerung der Digitalisierung des Gesundheitswesens.
- Erarbeiten einer konkreten und umfassenden Digitalstrategie, die über das elektronische Patientendossier (EPD) hinausgeht, unter Einbezug der relevanten Akteure.
- Förderung des Wettbewerbs der technischen Standards und Ideen mit den Grundsätzen der Interoperabilität und dem Once-Only-Prinzip.
- Förderung der Aus- und Weiterbildung im Bereich der Informationstechnologie, Naturwissenschaften, Public Health und bei deren Schnittstellen.
H+ unterstützt das Anliegen der Motion, da die Schweiz im internationalen Vergleich ins digitale Hintertreffen gerät. Dies zeigen die Erfahrungen in der aktuellen Krise und das schlechte Abschneiden in internationalen Rankings, z.B. im Digital Health Index der Bertelsmann Stiftung (Rang 14 von 17).
Weg vom Silodenken
Der Nachholbedarf bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens ist auch Gegenstand der Motion 21.3021 «Mehrwert für Forschung und Gesellschaft durch datenbasierte Ökosysteme im Gesundheitswesen» der WBK-N. H+ unterstützt diese Motion ebenfalls, u. a. im Rahmen der Allianz «Digitale Transformation im Gesundheitswesen».
In der Schweiz fehlt ein funktionierendes Gesundheitsdatenökosystem. Die in Silos bestehenden Gesundheitsdaten können nicht vernetzt und damit nicht genutzt werden. Viel Potenzial der Daten liegt für die Patienten, die Gesellschaft und den Forschungs- und Industriestandort brach.
Der Bundesrat lehnt die Motion 21.3021 mit der Begründung ab, dass bereits mehrere Massnahmen umgesetzt werden. Diese Puzzlesteine sind wichtig, decken aber nur Teilaspekte eines vernetzten Datenökosystems ab. Für eine kohärente Strategie braucht es eine ganzheitliche Vorgehensweise. Daher befürwortet H+, dass der Bundesrat mit der Motion 21.3021 verpflichtet wird, eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe einzusetzen und das Wissen der Expertinnen und Experten zu nutzen und einen abgestimmten Massnahmenplan für ein funktionierendes Gesundheitsdatenökosystem gemeinsam zu erarbeiten.
Tarifprojekt ambulante Pauschalen ist auf Kurs
Mit der Einreichung zur Überprüfung der Pauschal-Tarifstruktur ambulante Medizin im Dezember 2021 haben die Projektpartner unter der gemeinsamen Tariforganisation ein wichtiges Zwischenziel erreicht. In den kommenden Monaten soll die Tarifstruktur bis zur Genehmigungsreife weiterentwickelt und finalisiert werden.
Im Dezember 2021 haben die Partner der solutions tarifaires suisses AG eine erste Version der Pauschal-Tarifstruktur ambulante Medizin dem Bundesrat zur Vorprüfung eingereicht. Auf der Grundlage eines detaillierten Prüfberichts, welcher vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) auch für die erste Version des TARDOC erstellt wurde, soll die Pauschal-Tarifstruktur bis zur Genehmigungsreife finalisiert werden.
Weiterentwicklung in den kommenden Monaten
Doch nicht nur der Prüfbericht des BAG soll Aufschluss geben über mögliche Optimierungen, sondern auch die H+ Mitglieder werden direkt einbezogen, um die Pauschal-Tarifstruktur mit ihren Anmerkungen und Rückmeldungen sowie aktuellen Kosten- und Leistungsdaten weiterzuentwickeln.
Trotz sportlichem Zeitplan ist das Projekt auf Kurs. Für H+ ist eine parallele Einführung des TARDOC und der ambulanten Pauschalen zentral. Nur so kann dem Willen des Gesetzgebers, ambulante Pauschalen flächendeckend auf nationaler Ebene einzuführen, Rechnung getragen werden, nur so können Transparenz geschaffen und die hohen Implementierungs- und Betriebskosten so gut wie möglich optimiert werden.
Mit einer parallelen und koordinierten Einführung der beiden Tarifstrukturen ab 1. Januar 2024 kann TARDOC subsidiär zu den ambulanten Pauschalen für nicht pauschalierbare Leistungen zum Einsatz kommen. So kommt die Schweiz einem modernen ambulanten Tarifsystem einen Schritt näher. H+ lädt alle Tarifpartner ein, auf dem Tisch liegende Koordinationsvorschläge weiter kompromissbereit zu diskutieren.
Leiterin Geschäftsbereich Kommunikation, Stv. Direktorin, Mitglied der Geschäftsleitung