TARMED-Urteil des Bundesgerichts: Bundesrat darf linear kürzen und politisch motiviert eingreifen

Das Bundesgericht hat die Beschwerde einer Krankenkasse gegen einen Entscheid aus dem Kanton Luzern gutgeheissen und in einem Grundsatzurteil festgehalten, dass der Bundesrat bei TARMED-Eingriffen lineare Kürzungen vornehmen und dabei auch politische Anliegen erfüllen darf. Nach Ansicht von H+ ist dies für einen nächsten Tarifeingriff ein Freipass für den Bund, politische Anliegen mit nicht sachgerechten Anpassungen des Tarifs zu verwirklichen. Damit wird die Rechtsunsicherheit und politische Unberechenbarkeit bei ambulanten Tarifen erhöht.

Das Bundesgericht stellt im Urteil vom 29. März 2018 fest, dass der Gesetzgeber (Parlament) «dem Bundesrat einen grossen Ermessenspielraum einräumte.» Darum «steht einer linearen Kürzung der Taxpunkte bestimmter Positionen im Rahmen einer Tarifanpassung nicht entgegen.» Auch der «Umstand, dass der Bundesrat beim Erlass der Anpassungsverordnung 2014 auch den rechtlich verankerten politischen Zielen der Förderung der Hausarztmedizin und der Wirtschaftlichkeit respektive kostengünstiger Versorgung Rechnung trug, stellt ebenfalls keine Rechtsverletzung dar», hält das Bundesgericht fest. Die Anpassungskompetenz des Bundesrates sei «im Wesentlichen darauf ausgerichtet, die Tarifpartner zu veranlassen, sich auf eine vertragliche Anpassung der Tarifstruktur zu einigen,» erklärt das Bundesgericht.

«Willkürlicher Charakter» des Tarifeingriffs
Das Bundesgericht ordnet die Anpassungsverordnung vom Oktober 2014 wie folgt ein: «Es liegt in der Natur der Sache, dass jeder direkte Eingriff in die Tarifstruktur - wie er in Art. 43 Abs. 5bs KVG vorgesehen ist - mehr oder weniger «willkürlichen» Charakter hat, weil die betriebswirtschaftlichen, im Tarifmodell berücksichtigten Abhängigkeiten, Regeln und Vereinbarungen ausser Acht gelassen werden.»
Das Bundesgericht hiess deshalb eine Beschwerde der Krankenversicherung Assura gegen die Klinik St. Anna in Luzern respektive gegen einen Entscheid des Schiedsgerichts des Kantons Luzern gut. Dieses hatte den TARMED-Eingriff als nicht gesetzeskonform und politisch motiviert abgelehnt. Der Bundesgerichtsentscheid hob nun den für das Spital und die Branche positiven Entscheid der Vorinstanz auf.

Freipass für politische Eingriffe
Der Anwalt der St. Anna Klinik, Michael Waldner von der Kanzlei VISCHER, ordnet das Bundesgerichtsurteil wie folgt ein: «Faktisch erteilt das Bundesgericht dem Bundesrat einen Freipass, um ohne nähere Prüfung der Verhältnisse unter Umständen auch nicht sachgerechte Eingriffe in Tarifstrukturen vorzunehmen, um damit Druck auf die Tarifpartner auszuüben, so dass diese aus eigener Initiative die Tarifstrukturen im Sinne des Bundesrates anpassen.» Schwer nachvollziehbar ist auch der Umstand, dass das Bundesgericht als höchste rechtsprechende Instanz «den Bundesrat von jeglicher Abklärungspflicht hinsichtlich der Sachgerechtigkeit und betriebswirtschaftlichen Bemessung der von ihm vorgenommenen Anpassungen entlastet hat.»

Marschhalt für Klagen gegen TARMED 1.09

Aus juristischer Sicht ist vorerst ein Marschhalt für ein Vorgehen gegen den TARMED-Eingriff 2018 angezeigt. Das Urteil des Bundesgerichts ist zwar für den TARMED-Eingriff 2018 nicht direkt präjudizierend. Allerdings würde das Bundesgericht das weite Ermessen und die faktisch aufgehobene Bindung an die Sachgerechtigkeit der angepassten Tarifstruktur wohl auch für die aktuellen Tarifeingriffe anwenden, so dass die Hürden entsprechend hoch sind.
H+ wird die Situation in Bezug auf die einzelnen Eingriffspositionen vertieft abklären und die Mitglieder informieren, falls sich die obige Einschätzung ändern würde.

H+: Vergrösserung der Rechtsunsicherheit
H+ hat den Entscheid mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Dieses Urteil wird die Rechtsunsicherheit nicht reduzieren, sondern im Gegenteil erhöhen. Wenn der Bundesrat gestützt auf dieses Urteil vom Rechtsrahmen abweichen und rein politisch entscheiden darf, dann steigt die Unberechenbarkeit.

Problematisch am Urteil ist auch, dass Tarifpartner, die erwarten, von politisch motivierten Eingriffen begünstigt zu werden, kaum mehr versuchen werden, sich zusammenzuraufen, wenn eine Einigung schwierig ist. Sie werden vermehrt versuchen, auf politischen Weg ihr Ziel zu erreichen und über Öffentlichkeitsarbeit oder das Parlament Druck aufbauen. Das bedeutet eine weitere Schwächung der Tarifpartnerschaft und hat einen kontraproduktiven Effekt.

H+ will deshalb den heutigen Rechtsrahmen anpassen und beabsichtigt, bereits auf die Sommersession hin entsprechende Forderungen zu erarbeiten: Wenn wieder über ein neues Tarifmodell verhandelt wird, soll es genügen, wenn es von einer Mehrheit der Tarifpartner unterstützt wird. Heute müssen alle damit einverstanden sein, was eine Einigung schwierig macht, wie sich in den vergangenen Jahren zeigte. Wenn dennoch keine Einigung zustande kommt, soll der Bundesrat nach Ansicht von H+ sich an die gleichen gesetzlichen Grundsätze halten müssen wie die Tarifpartner selber.

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